Institut für Gesprächs- und Focusingtherapie

Rainer Eggebrecht: Vor uns die Zukunft – integrale Psychologie als Wegweiser für das 21. Jahrhundert

ISBN: 978-3-7322-0849-4 Verlag: Bod-Verlag, 2013 Preis: € 16,80

Dieses Buch gibt Anregungen und motivierende Impulse. Der Autor setzt die Psychologie in den Kontext einer Bewusstseinsentwicklung, wie sie in der integralen Theorie Ken Wilbers und dem Entwicklungsmodell Spiral Dynamics verstanden wird. Zudem bietet dieses Buch zahlreiche Beispiele von Menschen und Gemeinschaften, die eine neue, integrale Weltsicht im Praktischen erproben.
Eine auf authentischer und gelebter Erfahrung beruhende Vision für eine bessere Zukunft – mit zahlreichen Selbstwahrnehmungsübungen.

Leseprobe: Vor uns die Zukunft – integrale Psychologie als Wegweiser für das 21. Jahrhundert

Ausschnitt aus dem 9. Kapitel.

Integrales Focusing

Buchauszug (Kapitel 9.2): Integrale zukünftige Kompetenzen

Welche Kompetenzen benötigen wir für eine integrale zukünftige Gesellschaft? Betrachten wir wieder die gegenseitige Verbundenheit von innerlich-individueller Wahrnehmung – Ich, kulturellem Beziehungskontext – Wir und der äußerlich-wissenschaftlichen Perspektive – Es.

ICH: Psychologische, spirituelle, introspektive Kompetenzen

Psychologisch gesehen ist es von großer Bedeutung, sich ganz in der Gegenwart, im Jetzt zu erleben. Schon Augustinus betonte die Wichtigkeit des Zusammenklangs von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: wir sollten die Vergangenheit akzeptierend annehmen, der Zukunft mit Vertrauen begegnen – und wenn sich Vergangenes und Zukünftiges in der Gegenwart versöhnt die Hand reichen, dann können wir unser Leben bewusst und lebendig gestalten.

Dies entspricht ziemlich genau der Vorstellung einer echten, kongruenten Persönlichkeit, wie sie die humanistische Psychologie beschreibt. Mit der Vergangenheit aussöhnen und mit einem gedämpft optimistischen Vertrauen in die Zukunft blicken (einen unendlich offenen Möglichkeitsraum) – so können wir uns unserer nachhaltigen Verantwortung für alles Lebendige bewusst werden.

Nach Kahil Gilbran haben wir die Welt nicht von unseren Vorfahren geerbt, sondern nur von unseren Kindern geliehen.

Eine selbstbewusste und kongruente Persönlichkeit wird sich flexibel und dynamisch in einer Welt aus miteinander verknüpften Ursachen und Folgen bewegen und über ein weiter gespanntes Denken und ein größeres Repertoire an Verhaltensmöglichkeiten verfügen.

Eigene regionale und nationale Interessen sind dann zunehmend in ein größeres Ganzes eingebunden und in die gesamte Biosphäre verwoben. Durch lebenslanges Lernen wird es zu einer Neubewertung von Erwartungen und Empfindungen kommen, die von vielen Menschen heute noch großenteils als „Verfall“ und Auseinanderfallen der (nationalen) Gesellschaft und mit Heimweh nach den „guten alten“ Zeiten des 20. Jahrhunderts betrauert werden.

Wie Gabor Steingart treffend bemerkt, bedeutet das Ende unserer heutigen Normalität nicht das Ende der Welt, sondern nur das Ende einer westlich-kapitalistischen individualisierten Sichtweise, wie wir sie bisher kannten. Mit dem Ende der Normalität betreten wir eine Welt veränderter Wahrscheinlichkeiten, in der „das lineare Leben früherer Zeiten mit einem Feuerwerk von Komplexität endet.“ Die wichtigste persönliche Ressource wird Zuversicht sein – also „Vertrauen in eine Zukunft, in der zwar vieles anders, aber nicht alles schlechter ist.“

Ein wirklich kongruenter Mensch wird zudem auch humorvoll sein. Denn mit zunehmender Akzeptanz und Empathie weitet sich auch das Spektrum dessen, was wir noch tolerieren und liebevoll belächeln können.

Wolf Schneider („Auf der Suche nach dem Wesentlichen“) schreibt, wir sollten auch „…lachen können über Heiliges, über Beängstigendes, vor allem über uns selbst – wer das kann, ist frei von engen Ideologien und Selbstkonzepten“.
Ein weiser Mensch wird an seinem entspannten Lachen zu erkennen sein, mit dem er „den kosmischen Witz unserer Existenz“ durchschaut. Denn das Leben selbst testet uns immer wieder, ob wir genügend Humor haben, uns als oft komische Figur in dieser „göttlichen Komödie“ zu sehen. Wer sich so sehen kann als „Narr“ (Europa) oder tanzenden Shiva (Indien), ist auch in vielen anderen Dingen gelassener und freier.
Der Hofnarr des Mittelalters und der absolutistischen Höfe verkörperte – wie auch der Narr aus dem Tarot und der europäischen Esoterik – den Niemand, den Weisen, der als einziger alle Wahrheiten – auch unbequeme – aussprechen durfte. Auch heute noch kann er als Joker im Kartenspiel jeden Platz einnehmen und ist damit die stärkste Karte im Spiel.

Der Hirnforscher Gerald Hüther betont, dass eine Weiterentwicklung unserer komplexen Gesellschaft in Zukunft nicht mehr ausschließlich von „oben“ – also von den gewählten Repräsentanten – stattfinden wird, sondern von „unten“ – also von Einzelnen ausgehen wird: „Wenn wir eine bessere Welt haben wollen, muss jeder einzelne, der das möchte, für sich anfangen, erst mal für sich selbst einen Zustand zu erzeugen, den man vielleicht Friede nennt oder Liebe. Dann könnte man anfangen, andere einzuladen, gemeinsam Erfahrungsräume aufzubauen, in denen tatsächlich Potenzialentfaltung möglich wird.“ Und je vielfältiger der Spiegel im anderen ist, desto komplexer wird das Bild, das jeder einzelne von sich selbst hat. Durch Überwinden der eigenen persönlichen Begrenzungen, die uns Kultur, Zivilisation, Religion und unsere historischen und traumatischen biographischen Erfahrungen zugefügt haben, können wir zu dem zu werden, was wir eigentlich wirklich sind: zu einmaligen, gemeinschafts- und zukunftsoffenen integralen Menschen.

Wir: Kulturelle, ethische und wertschätzende Kompetenzen

In Schulen können wir neue kulturelle Entfaltungsräume ausprobieren – mit platonischer Rückendeckung! Denn Platon war ein früher Verfechter der Potenzial-Entfaltung. Er betonte, dass wir Schule als Er-Lebensraum gestalten müssten, damit Potenziale sich entfalten könnten. Diesem „Hebammen-Prinzip“ setzten die Sophisten das „Trichter-Prinzip“ entgegen, indem sie Kinder als „knetbare Masse“ betrachteten, als „Tabula rasa“ (unbeschriebenes Blatt), das erst kulturell beschrieben werden müsste.

Und leider haben wir dieses Prinzip bis ins späte 20. Jahrhundert ziemlich unüberprüft angewendet. Heute noch sprechen manche Schüler respektlos von „Bulimie-Pädagogik“: Vor einer Prüfung stopft man sich mit den geforderten Wissensdaten voll, um sie dann in der Prüfung „auszukotzen“. Danach ist alles vergessen. In einer neuen integralen Lernkultur müssten wir ohne Angst- und Leistungsdruck lernen dürfen. In diesem Potenzial-Entfaltungsbereich können wir viel von anderen Kulturen lernen.

Nach Gerald Hüther müssten wir „Erfolg“ durch „Gelingen“ ersetzen – ein Wort, das erstaunlicherweise im angelsächsischen Sprachraum nicht existiert. Damit Ihnen ein Kuchen gut gelingt, müssen Sie zwar erfolgreich (successfully) das Backrezept befolgen, aber Ihr inneres Bild von diesem Kuchen und der Kuchen in seinem „Werden“ sind „verschränkt“ – Ihr Kuchen wird nicht nur successfully zubereitet – er ist Ihnen mit Ihrer Motivation, Ihrem Zeitaufwand und Ihrer Begeisterung in der Tat wirklich gut „gelungen“ (oder auch nicht!).

Nach Hüther setzt „Erfolg“ in unserer westlichen Gesellschaft immer schon eine gewisse reduktionistische Beschränktheit voraus: denn um sehr „erfolgreich“ zu sein, muss man viele Folgen und Vernetzungen des eigenen Tuns ausblenden (dies lässt sich – so Hüther – auch durch mangelnde Vernetzung im Gehirn nachweisen).

Das Land Brandenburg unterstützt seit 2012 die von Gerald Hüther ins Leben gerufene integrale Pädagogik auch finanziell. In über sechzig (!) Schulen werden Schüler nun nicht mehr als zu trainierende „Potenzial-Entfalter“ leistungsmäßig gedrillt – sie werden als „Gestalter“ gesehen, denen günstige Erfahrungen ermöglicht werden sollen. Um wirklich neue Erfahrungen machen zu können, brauchen wir eine „Einladungs- und Begeisterungskultur“ (Hüther).
Das wusste bereits der „Kleine Prinz“ bei Antoine de Saint-Exuperie: „man sieht nur mit dem Herzen gut“. Und schon gibt es „…Schüler, die traurig sind, wenn die Ferien kommen und sie statt in ihre geliebte Schule nun mit den Eltern nach Italien fahren müssen.“ (Hüther 2012 auf einem Vortrag im „Tempelhof“).

Eltern sollten folglich ihre kleinen Kinder nicht von Frühförderung zu Frühförderung schicken, sondern diese sich selbst begeisternd mit ihrer eigenen wunderbaren und aufregenden Welt beschäftigen lassen. Ansonsten kriegen diese Kinder zwar gute Abiturnoten und Studienabschlüsse, denen allerdings spätestens nach zehn Berufsjahren ein Burn-Out folgt. Denn sie haben keine wirklich emotionale Selbstwirksamkeit und Begeisterung, keine liebevolle echte Kommunikation und keinen wirklichen, aus sich selbst kreativ entstehenden „gelingenden“ Lebenssinn erfahren.

ES: Wissenschaftliche, empirisch überprüfbare Kompetenzen

Private Zivilgesellschaften (Non Government Organisations) schaffen heute Veränderungen, die keine Staatsgewalt je vollbringen kann. Die weltweit größte Bewegung der Menschheit (10 Millionen Initiativen) verändert veraltete Strukturen und stürzt Diktaturen. Überall auf der Welt geschieht ein Bewusstseinswandel. Zivilgesellschaften schaffen neue Gemeinschaftsforen, erproben alternative Währungssysteme, kritisieren eine Atom-Lobby, den Raubtier-Kapitalismus von Multi-Konzernen (Saatgut-Monopole, Wasser-Privatisierung, Umwelt- und Bausünden). Wir sind derzeit gleichzeitig Sterbebegleiter des Alten und Geburtshelfer von etwas Neuem. Dieser innere Wandel führt zu einer Vision und zu Ideen einer anderen, besseren Welt.

Nach Jeremy Rifkin („Die empathische Zivilisation“) könnte eine neue Ära eines dezentralisierten Kapitalismus es uns ermöglichen, einen neuen Weg der Globalisierung zu beschreiten: „von unten nach oben, weitgehend emissionsfrei, gestützt auf regenerative und regional gewonnene Energien, aber weltweit vernetzt.
Dieser Weg muss noch weiter erkämpft werden, denn die Entropie, die unsere Spezies verursacht hat, hat nun die ganze Erde erfasst und bedroht unsere Existenz“. Mit Schuldzuweisungen, dem herkömmlichen Denken, Machtdemonstrationen und den taktischen Manövern der offiziellen Regierungspolitik können wir das nicht erreichen. Dies gelingt nur, wenn wir ein universalisiert empathisches, biosphärisches Bewusstsein in immer stärkerem Maße fördern und entwickeln.

Über10 Millionen NGOs sowie eine stark wachsende Zahl weltweit zivil-couragierter Menschen erhöhen die Chancen, dass diese überlebenswichtige Aufgabe auf diesem unseren wunderbaren Planeten gelingen kann.