Institut für Gesprächs- und Focusingtherapie

Focusing und Kulturgeschichte: Zurück für die Zukunft

Von der Telenovela des griechischen Götterhimmels über Dantes Göttliche Komödie und Kants kritische Vernunft zur bunten dynamisch-integralen Landkarte von heute
(stark gekürztes Vortrags-Skript von Rainer Eggebrecht, 2016)

Im antiken Griechenland war ein erfülltes Leben nur in Harmonie mit den Göttern denkbar. Die Götter vermittelten den Griechen ein Gespür für das Leuchtende, das der Freude wie dem Leid in einem sinnvollen Dasein zugrunde liegt. Die kollektiv erlebten Stimmungen – von Göttern getragen – vermittelten einen Zugang zu den positiven Phänomenen des Seins.
Im homerischen (polytheistischen) Griechenland vermittelten strahlende Helden wie Odysseus und Achilles oder die erotische Helena in der Odyssee wichtige Bedeutungen möglicher Lebensweisen. Sie ermöglichten es jedem gewöhnlichen Griechen, ein bedeutungsvolles Leben zu führen. Im homerischen Griechenland hätte es niemals Heilige geben können – ebenso wenig konnte es im Mittelalter griechische Helden geben: sie wären als impulsive und verantwortungslose Sünder betrachtet worden. (In Dantes Höllenfahrt sind Paris und Helena als zügellose Triebmenschen in die Hölle verbannt).
Im 20. Jahrhundert betont Jean-Paul Sartre in seiner Philosophie des Existenzialismus, dass jeder Mensch in den Besitz seiner selbst zu bringen sei und dass ihm die totale Verantwortung für seine Existenz aufgebürdet wird. Dies steht in radikalem Widerspruch zur homerischen Vorstellung, dass wir immer dann nach bestem Vermögen handeln, wenn wir uns Himmel und Erde öffnen und zulassen, von außerhalb unser Selbst gelenkt zu werden.
Modern ausgedrückt, ist das Göttliche in Homers Terminologie eine Stimmung, die uns auf das Bedeutsame einer Situation vorbereitet und uns ermöglicht, spontan und ohne nachzudenken angemessen darauf zu reagieren.

Mittelalter
Gott ist der Schöpfer der Welt und wird von Augustinus in einer Radikalität vertreten, wie sie von den griechischen Philosophen nie erreicht worden ist. Für Platon und Aristoteles ist Gott der Weltbildner, der das Chaos ordnet und gestaltet. Augustinus hingegen denkt die Macht Gottes uneingeschränkt – daher kann es nichts geben, was Gottes schöpferischem Willen vorherginge, also auch kein an sich bestehendes Chaos. Gott als absolut Mächtiger hat die Schöpfung aus dem Nichts heraus geschaffen. Den griechischen Philosophen ging es um die Welt der Natur, um die durch Schleier getrübte Erkenntnis einer höheren Wirklichkeit, wobei das Handeln der Menschen als vernunftbegabte Wesen entscheidende Geschehnisse bewirkt.

Der christliche Gott ist aber auch grenzenlose Liebe, mit der Verantwortung für jeden Christen, sich um das Leiden in der Welt zu kümmern. Dieser ethische Anspruch ist der Antike noch relativ unbekannt. Im Christentum entsteht eine tief innerliche und persönliche, durch das eigene Gewissen und durch die erlösende Geschichte vom Leben und Leiden Jesu vermittelte Beziehung zu Gott.

René Descartes (1596 – 1650)
Den nächsten großen Schritt in Richtung Autonomie – aber auch Nihilismus – unternahm René Descartes im frühen 17. Jahrhundert. Er fokussierte ausschließlich auf das, was wir durch die Kraft unseres Willens erlangen können. Einer Empfänglichkeit für äußere Kräfte bedurfte es nicht mehr.
Im antiken Griechenland gab es Götter und Helden.
Jesus begründete die christliche Welt mit ihren Heiligen und Sündern.
Descartes unterschied nun zwischen Subjekten und Objekten.
Seit Descartes gelangt der Rationalismus und die Vernunft als oberstes Erkenntnisprinzip zu bis heute allgemeingültigem Einfluss („ich denke, also bin ich“).

In der Aufklärung des 17. Jahrhunderts wurde der rationalistische Glaube an Wissenschaft und Fortschritt zunehmend ergänzt durch die Überzeugung, dass allen Menschen Freiheit, Gleichheit, Güte und Erziehbarkeit innewohnt.

Immanuel Kant (18. Jahrhundert)
Für Kant sind Erfahrung und Denken untrennbar verbunden. Ein „Ding an sich“ können wir nicht erkennen. Er kritisierte alle nicht auf Erfahrung beruhenden Aussagen der europäischen Denktraditionen, besonders Aussagen über die Unsterblichkeit der Seele, über das Weltganze und über Gott („Kritik der reinen Vernunft“).
Nach Kant kann es nichts außer uns selbst geben – keinen Gott und keine andere höhere Macht, keine heilige Schrift, keinen Brauch, kein staatliches Dekret – auf das wir unser sittliches Handeln gründen könnten, wenn wir nach unserem besten Vermögen handeln wollen.
Die kantische Philosophie ist zwar sehr abstrakt, doch ihr zugrunde liegender Impuls ist tief verwoben mit unserer modernen Welt. Auch für uns ist jeder Mensch selbst für sein Handeln verantwortlich. Sartres Existenzialismus bürdet jedem Menschen die totale Verantwortung für seine Existenz auf.

Bei Schopenhauer und Nietzsche (1844 – 1900) ist das Wesen aller Dinge der Wille zur Macht. Nicht mehr das Erkennen, sondern das Erschaffen steht nun im Vordergrund. Der Mensch allein ist jetzt der Schöpfer aller Werte.

(Nettes Bonmot: „Gott ist tot“ – Nietzsche – „Nietzsche ist tot“ – Gott)

Unsere Gegenwart
Unsere hochtechnisierte Welt wirkt – im Vergleich zu der gefühlsintensiven und bedeutungsvollen Welt der homerischen Griechen oder der durch Jesus Christus in Freude und Schmerz mitfühlend getragenen Welt des Christentums – oft verarmt und sinnleer. Aber wir können nicht zurückkehren zu Homers Welt, und sollten uns auch in gewissem Sinne davor hüten. Denn die alten Götter wirkten allesamt auf gleiche Weise und wiesen eine menschliche Familienstruktur auf. Ob es Aphrodites heilige erotische Welt oder Ares‘ heilige Welt des Krieges war, ob Athenes Welt der Erfahrungsweisheit oder Hephaistos‘ Welt der schönen Kunst – das Leuchtende all des Heiligen in der Welt der alten griechischen Götter wallte wie eine Welle auf und trug die Menschen eine Weile, bevor es wieder an Kraft verlor und von ihnen abließ.
Heute besitzen wir – neben leuchtenden Momenten – Gefühle der Verantwortlichkeit für die gesamte Biosphäre und kultivieren und entwickeln dafür notwendige Fähigkeiten durch Vernetzung und Globalisierung moralischer, wissenschaftlicher und weltethischer Perspektiven. Erst heute sind wir allmählich fähig, für alle Seinsweisen des Universums einen Platz in unserer Welt finden. Moderne quantenphysikalische Erkenntnisse zeigen die Verschränkung und gegenseitige Bedingtheit von Wissenschaft, Philosophie und Spiritualität auf. Eine integrale Vereinigung der Stärken des „Monotheismus“, des „Polytheismus“ und der „Kritischen Vernunft“ könnte variantenreicher, mitfühlender und lebenssprühender sein als alles, was die Antike, das Mittelalter und die Aufklärung jemals kannten.

Zukunft
Der Zukunftsforscher Horst Opaschowsky stellt eine zunehmende Veränderung des Statusdenkens in Deutschland fest: „Prestige gewinnt der, der mit sich und seinem Leben zufrieden ist und nicht der, der sich immer mehr leisten kann. Die soziale Dimension des Lebens wird wichtiger als die materielle. Zudem vertraut die jüngere Generation den Politikern immer weniger. Eine neue Mitmach- und Zusammenhaltsgesellschaft kündigt sich an. Wichtige Eigenschaften hierfür: Vertrauen, Verantwortung und Verlässlichkeit.

Nachhaltigkeit nimmt rapide zu: Bio und Öko, Teilen statt Besitzen, Mieten statt kaufen (Share-Economy). In Deutschland wachsen Direct-Marketing im Bio-Bereich und regionale Energie-Genossenschaften rapide. Nach Opaschowsky kündigt sich ein Paradigmenwechsel an: Von der Flucht in die Sinne zur Suche nach dem Sinn.

Micro-Credits – z.B. in Indien – sind wichtig, aber sie müssen in der Hand regionaler Kommunen bleiben. Gabor Steingart („Das Ende der Normalität“) fordert hierzu, dass dezentralisierter Kapitalismus entstehen müsse, damit globale Riesenunternehmen ihre ausbeuterischen kolonialistischen Tätigkeiten nicht weiter fortsetzen können.

Der Zukunftsforscher Matthias Horx („Zukunft wagen“) betont, wie „gerne“ wir uns fürchten: der Weltuntergang in all seinen Varianten von der Öko-Katastrophe bis zum Meteor-Einschlag mache uns regelmäßig süchtig, wie man am alltäglichen Fernsehprogramm und den sich stetig vermehrenden Weltuntergangs-Produktionen Hollywoods sehen kann („apokalyptisches Spießertum“).
Mit der wirklichen Zukunft hat dies allerdings nur wenig zu tun. Eine neu entstehende ganzheitliche Zukunftsforschung arbeitet mit viel differenzierteren Konzepten. Erst im Reichtum ihrer Schnittmengen wird erkennbar, was Zukunftsforschung im Kern sein könnte: Eine Wissenschaft zum Verständnis dynamischer Komplexität.

Wirkliche visionäre Umgestaltung muss sich zudem zwischen zwei Extremen herantasten: nahezu (noch) unverständliche neue Weltsichten, und: keine zu gravierenden Unterschiede in der Lebensweise von der seiner Zeitgenossen. (Also das unvollkommene Bestehende nicht völlig abwerten). Viele guten Visionen sind an diesem Punkt gescheitert: Woodstock z.B. war eine Vision von Gleichheit, Toleranz und Liebe. Doch die bestehende Gesellschaft wurde dabei so sehr als kapitalistisch und faschistisch gebrandmarkt, dass kompetente Umgestalter und gemäßigte umsichtige Artikulierer sich nicht herausbilden konnten. Die Kluft blieb zu groß. So scheiterte diese Vision.

Geglückte Visionen: Ghandi, Nelson Mandela oder Martin Luther King: sie schafften es, durch tiefe menschliche Authentizität ihre Feinde nicht hasserfüllt anzugreifen, sondern ihr Anliegen mutig immer wieder so zu artikulieren, dass es allmählich von immer mehr Zeitgenossen verstanden und angenommen werden konnte.